Prof. Dr. med. Michael H. Schoenberg im Interview mit Corinna Saric
Lieber Herr Prof. Dr. Schoenberg,
ich habe Ihr neues Buch „Aktiv leben gegen Krebs“ mit großem Interesse gelesen. Ganz neu sind die Empfehlungen „nicht zu rauchen, Alkohol in Maßen zu genießen und Sport zu treiben“ ja nicht – aber Sie geben einen kurzweiligen Überblick über die Fakten, die Leben retten können. Ganz besonders aufmerksam wurde ich, als ich auf der ersten Seite die Widmung für Ihre liebe Mama gelesen habe. Für mich als Vorstandsmitglied von Aktion Pink Deutschland ist es wichtig, ob ich mit einem Medizin-Experten spreche, oder mit einem Medizin-Experten, der weiß, was es heißt, einen geliebten Menschen an diese Krankheit zu verlieren. Dieser Umstand macht Sie zu einem „Weggefährten“, wenn Sie erlauben, dass ich dies so sagen darf. Ich bin sicher, dass Ihr Buch ein hilfreicher Wegweiser für „Gesunde“, „Survivor“* sowie deren Partner und Familienangehörigen ist.
„A bissl was geht immer!“ Genau! Und hierin liegt das Problem für viele Betroffenen. Es gibt unzählige Ratgeber für Bewegungsmuffel und überall lesen wir die Empfehlung, sportlich aktiv zu werden und im besten Fall vorher den Arzt zu befragen. Wenn man Glück hat, misst der Arzt den Blutdruck, entnimmt etwas Blut und rät dann: „A bissl was geht noch!“ Sie sprechen damit etwas ganz Wichtiges an. Unsere „Survivor“ sind sehr gut informiert über ihre Erkrankung und hoch motiviert, alles dazu beizutragen, zu gesunden. Sie kaufen sich Laufschuhe und wollen beim nächsten Race dabei sein. Viele laufen selbst organisiert und oft freut sich der behandelnde Arzt, dass die Patientin, der Patient so aktiv mitarbeitet.
Welche Fachärzte sollten hier zu Rate gezogen werden? Natürlich der behandelnde Arzt, aber welche unterschiedlichen „Disziplinen“ kommen hier noch in Frage, wenn eine Krebserkrankung vorliegt? Je ausführlicher Sie unsere Leserschaft hier aufklären können, umso folgsamer und erfolgreicher wird Ihr Rat zu mehr Bewegung umgesetzt.
Prof. Dr. Schoenberg: Grundsätzlich sollten alle Patienten, bevor sie sich sportlich betätigen, die behandelnden Ärzte konsultieren, d. h. bei Krebspatienten natürlich immer den Hausarzt, den Onkologen ggf. den Operateur und Strahlentherapeut.
Die erste Frage, die es zu beantworten gilt, ist, inwieweit der Patientin, neben ihrer Krebserkrankung, körperliche Aktivität generell zuzutrauen ist. Sollte die Patientin Herzkreislauf- und/oder Lungen- und Atemwegserkrankungen haben, empfiehlt sich eine Untersuchung beim Kardiologen, Lungenfacharzt oder auch bei speziell ausgebildeten Sportärzte. Der Hausarzt kennt in aller Regel die Patientin und ist ein wichtiger „Weichensteller“.
In der Therapiephase, d. h. kurz nach der Operation, während der Strahlen- und Chemotherapie, sollten die jeweiligen behandelnden Fachärzte befragt werden, ob nicht therapiespezifische Einschränkungen eine sportliche Tätigkeit begrenzen. Noch nicht verheilte Wunden, Hautreaktionen durch die Strahlentherapie und Chemotherapeutika, die die Herz- und Lungenfunktion einschränken, müssen bei geplanter sportlicher Betätigung mitberücksichtigt werden. Ebenfalls können Chemo- und Strahlentherapie zu erheblichen Veränderung der Blutwerte führen, sodass nur bestimmte Sportarten sinnvoll sind oder aber zunächst eine sportliche Betätigung zu gefährlich erscheint. Also: Bitte immer vorher die entsprechenden behandelnden Ärzte fragen!
Sie schreiben, dass bei der medizinischen Diagnostik für ein maßgeschneidertes Training verschiedene Fragen beantwortet werden. Bitte erklären Sie uns dies.
Prof. Dr. Schoenberg: Noch hat die Wissenschaft nicht alle Aspekte geklärt, weitere Untersuchungen sind notwendig, um verschiedene Fragen bezüglich des Trainingsbeginns, der Intensität und Dauer sowie des Zusammenhangs mit der Gewichtsentwicklung schlüssig zu beantworten. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien sind jedoch für eines völlig ausreichend: Patientinnen sollten nachhaltig dahingehend motiviert werden, körperliche Aktivität als ein zusätzliches „Medikament“ bei der Behandlung des Brustkrebses einzusetzen.
Wenn die Ärzte „grünes Licht“ geben und die Patientin nicht weiß, wie sie anfangen soll, sollte sie einfach mit „Gehen“ beginnen. Kann jeder, man braucht keine besondere Ausrüstung und keine Sportstätte, man kann es mit dem Partner oder Freunden machen und bereits eine kurze Strecke ist schon ein Erfolg..., denn a bisserl was geht immer. Wenn dann der Spaß an der Bewegung, ggf. in einer Gruppe, hinzukommt, kann die körperliche Aktivität nach Rücksprache mit den Ärzten gesteigert werden. Sprichwörtlich „kommt der Appetit beim Essen“.
Sehr hellhörig wurde ich bei Ihrem Statement: „Sitzen ist das neue Rauchen“. Da ich vor 24 Jahren das Rauchen aufgegeben habe, zwar m. E. ausreichend laufe, aber leider oft auch sehr lange am Schreibtisch, in Meetings oder auf Reisen „sitze“, hat mich Ihr Gedanke etwas nachdenklich gestimmt. Die meisten unserer „Survivor“ und auch deren Familien, bewegen sich regelmäßig. Viele sitzen aber auch verhältnismäßig lange am Schreibtisch. Wie muss man sich die gesunde Relation vorstellen? Müssen „Schreibtisch-Täter“ dann im Verhältnis länger laufen, radfahren oder schwimmen, um gesund zu bleiben?
Prof. Dr. Schoenberg: Ziel des körperlichen Trainings bei Brustkrebs (wie im Grund bei allen Tumorerkrankungen) ist ganz allgemein die Verbesserung
• der körperlichen Leistungs- und Funktionsfähigkeit
• der Lebensqualität
• der Fatigue-Beschwerden
• der Prognose.
Das Bewegungs- und Krafttraining speziell bei Brustkrebspatientinnen sollte zusätzlich noch spezifische Probleme, die während und nach Behandlung entstehen können, berücksichtigen. Diese sind
• Verminderung des gefürchteten Lymphödems
• Vermeidung einer Fehl- und Schonhaltung
• Ausgleich der Kraftunterschiede zwischen gesunder und behandelter Seite
• Vorbeugung und Therapie von begleitender Osteoporose.
Schon ein Ausdauertraining von etwa 9 MET-h/Woche hat positive Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit, die Lebensqualität und die Prognose. Und je mehr „Frau“ trainiert und sich bewegt, umso größer ist der positive Effekt.
Was bedeutet 9 MET-h/Woche?
Prof. Dr. Schoenberg: Es gibt eine sogenannte MET-Tabelle in der verschiedene sportliche aber auch andere körperliche Aktivitäten mit einem MET-Wert hinterlegt sind (MET-Tabelle siehe Ainsworth et al. 2000). Gemäß dieser Tabelle entsprechen 9 MET-h/Woche dreimal eine Stunde Spazierengehen, zweimal eine Stunde Radfahren oder Rasenmähen, Gartenarbeit etc.. Man muss aber auch nicht eine ganze Stunde sich bewegen, sondern kann sich die körperliche Aktivität in „kleineren Portionen“ einteilen. Je aktiver man ist, umso größer der Effekt zur Verbesserung der Prognose und Lebensqualität. Sie fragen: Muss man als „Schreibtischtäter“ mehr Sport treiben. Nicht unbedingt, solang man sich in der Zwischenzeit genügend Zeit nimmt, um körperlich aktiv zu sein. Sehr sinnvoll ist es aber auch, während der Arbeitszeit ein gewisses Maß an Bewegung einzuplanen, z. B. eine Station früher aus der Straßenbahn oder Bus auszusteigen und das letzte Stück des Wege gehen, Radfahren zur Arbeitsstelle, Treppen gehen statt Lift etc.. Aber Vorsicht! Bewegung und körperliche Aktivität sollen Spaß machen!
Ihre Kurzbeschreibung über die verschiedenen „Anti-Krebs-Diäten“ war sehr informativ. Hier haben unsere Leser sicher noch einige Fragen an Sie. Sehr sympathisch ist Ihr Begriff: „Gesteuerte Wunschkost“. Damit haben Sie mich sofort überzeugt, denn nichts ist schöner, als gesunder Genuss in „guten“ Tagen und nichts ist wichtiger, als genussvolle Kräftigung in der Zeit der Krise, nicht wahr? Bitte erzählen Sie uns hierzu mehr.
Prof. Dr. Schoenberg: Essen ist viel mehr als nur reine „Nahrungsaufnahme“. Essen heißt Gesellschaft, Geselligkeit, Gemeinsamkeit, feiern. Es gehört in unserem Alltag, es gehört zu unserem Familienleben und ist sehr wichtig. Sprichwörtlich hält gutes „Essen Leib und Seele zusammen“. Niemals sollten die Mahlzeiten unter Stress oder Zeitdruck eingenommen werden. Lernen wir von der „mediterranen“ Lebensart, Essen ist ein schönes „Event“ und sollte genossen werden. Es gibt keine „schlechten“ oder „bösen“ Lebensmittel. Es gibt nur Lebensmittel, die wir vielleicht öfters essen sollten, wie frisches Gemüse und Obst, mehr Fisch, weniger, mediterrane Essenskultur und weniger (rotes) Fleisch. Vor allem, wenn man erkrankt ist und belastende Therapien durchmacht, sollte uns das Essen Freude bereiten.
Jedoch kann aufgrund verschiedener Therapieansätze das Essen erschwert oder die Verdauung/Nahrungsverwertung verändert sein. Deshalb ist eine individuelle Ernährungstherapie oft sinnvoll und viel zielführender als eine „Krebs-Diät“, die oft mit unnötigen Einschränkungen und Kosten verbunden ist und unseriöse Versprechungen nicht einhalten kann.
Alle „Survivor“ überstehen tapfer Operation, Bestrahlung und sogar Chemotherapie. Was empfehlen Sie im Fall von Appetitlosigkeit, Unverträglichkeiten und Übelkeit? Jeder wird verstehen können, dass diese Unannehmlichkeiten die „gesteuerte Wunschkost“ ziemlich mickrig ausfallen lassen können. Wie motiviert man sich dann? Haben Sie einen Tipp?
Prof. Dr. Schoenberg: In dieser Phase ist nicht nur „was“, sondern „wie“ man isst, sehr wichtig. Die Atmosphäre während der Mahlzeit spielt eine entscheidende Rolle. „Die Augen essen mit“! Daher ist es umso wichtiger bei Appetitlosigkeit und Verdauungsstörungen auf die appetitliche Präsentation und eine ruhige Atmosphäre bei den Mahlzeiten zu achten.
Was regt zum Essen an? Ist es das Kerzenlicht? Saft oder Tee in einem Weinglas? Vielleicht wirken kleine Portionen auf großen Tellern motivierender als übervolle Teller etc.. Es gibt viele Tipps, Tricks und Kniffe um in dieser schwierigen Phase sich doch ausgewogen, ohne Qual und doch ausreichend zu ernähren.
Flexibilität in Bezug auf Timing und Temperatur! Manchmal möchte man einfach Nudeln zum Frühstück. Gelegentlich werden kalte Speise überraschend gut vertragen, manchmal ist es besser etwas Lauwarmes zu essen, weil der Geruch nicht so stark wahrgenommen wird. Die Wahrnehmungen können sich kürzester Zeit von Stunde zu Stunde ändern. Die Patientin sollte sich bewusst sein, dass sie auch mitteilt, was in diesem Moment für sie „das Richtige“ ist. Es geht hier um die wichtige Selbstfürsorge.
Bei uns geht es um das Thema „Brustkrebs“, das heißt, größtenteils sind es Frauen, die Kontakt zu unserem Verein aufnehmen. Erfahrungsgemäß lassen sich die Frauen nicht lange „hängen“, versuchen recht schnell Lösungswege zu finden und eine Verbesserung der Situation zu erreichen. Sie möchten ihren Kindern die Angst nehmen und ihre Partner nicht über Gebühr belasten. Frauen legen viel Wert auf ihr Äußeres. Gerade deshalb leiden sie umso mehr unter möglichem Haarverlust, Niedergeschlagenheit und der Übelkeit während der Chemo. Auch, wenn die heute bei Weitem besser verträglich ist, als früher. Manche trinken dann hauptsächlich vegetarische Brühe, einige schwören auf homöopathische Mittelchen. Es gibt Berichte, dass ein japanischer Pilz in Tropfenform die Immunabwehr erhöht und die Chemotherapie besser verträglich macht. Was sagen Sie dazu?
Prof. Dr. Schoenberg: Vermutlich sprechen Sie die Maitake-Pilze an. Maitake-Pilze und speziell das Extrakt, das in der D-Fraktion Beta Glucan (auch als Beta Glycan bezeichnet) enthält, soll in einer tierexperimentellen Studie die Ausbreitung von Brust- und Leberkrebszellen vermindert oder sogar verhindert haben. Gute klinische Studien, die eine Wirksamkeit dieser Substanzgruppen bei Brustkrebspatientinnen beweisen, liegen noch nicht vor.
Eine amerikanische Studie mit der Substanz „grifola frondosa“ aus den Maitake- Pilzen, konnte bei 35 Patientinnen zeigen, dass die Substanz sowohl positive wie auch negative Auswirkungen auf die Abwehrlage hatte. Die Autoren und auch ich kommen zu dem Schluss, dass man solche Substanzen nur nach vorheriger Rücksprache mit den behandelten Ärzten einnehmen soll. Vorsicht ist geboten.
OK, das dachte ich mir! Bitte erlauben Sie mir noch eine Frage zum Thema „Ernährung“. Als Genussmensch gehören für mich Milchprodukte in jeder Form auf den Tisch. Allerdings gibt es hierzu auch beunruhigende Theorien. Sie schreiben hierüber nichts in Ihrem Buch, allerdings erwähnen Sie das Thema „Calcium“. Können Sie uns hierzu noch etwas sagen? Für uns Frauen ist eine ausreichende Calciumversorgung besonders wichtig. Was, wenn Calcium bei Krebs kontraindiziert ist?
Prof. Dr. Schoenberg: Laut der World Cancer Research Fund (WCRF) zeigen Studien, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Milch bzw. Milchprodukten und einer Erhöhung des Krebsrisikos nicht eindeutig belegt ist. Es gibt unterschiedliche und widersprüchliche Ergebnisse. Vermutlich spielt der Calciumgehalt und nicht die Milch selbst hier eine wichtige Rolle, wobei der Effekt von Calcium bei verschiedenen Krebserkrankungen variiert. Für den Dickdarmkrebs konnte eine begrenzte Risikoreduktion, hingegen für den Prostatakrebs ein schwacher, jedoch risikosteigernder Effekte nachgewiesen werden. Für weitere Tumorarten ist die Beweislage nach wie vor noch unzureichend um eine seriöse Aussage zu machen. Da bei Frauen nach der Menopause und im Rahmen mancher Krebstherapien das Risiko für Osteoporose erhöht ist, sollten Frauen auf eine angemessene Zufuhr von Calcium und Milchprodukte zu achten.
Man weiß zwischenzeitlich: Übergewicht kann die Entstehung von Krebs fördern. Die meisten gesunden Menschen können durch eine Ernährungsumstellung und ausreichender Bewegung ein Normalgewicht erreichen. Eine Hormontherapie verursacht aber oft ja auch eine Gewichtszunahme und diese kann die Heilungschancen wiederum verringern. Ein Teufelskreis, nicht wahr?
Prof. Dr. Schoenberg: Dieser Teufelskreis ist aber vermeidbar. Mit dem richtigen Maß an Bewegung und durch eine gezielte Ernährungsumstellung, die energiedichte Lebensmittel im Blick hat, ist es auch durchaus möglich auch unter Hormontherapie das Gewichtszunahme zu stoppen und ein stabiles, gesundes Gewicht zu erreichen. Dies erfordert jedoch neben der positiven Motivation seitens der Patientinnen auch eine Begleitung durch eine qualifizierte Diätassistentin oder Ökotrophologin....
Wirklich ein letztes Mal noch das Thema „Ernährung“. Sie sprechen bezüglich einer optimierten Krebstherapie von den Empfehlungen zur ausreichenden körperlichen Aktivität und einer „mediterranen“ Diät. Darüber hinaus habe das Vitamin „D“ im Rahmen der Krebsvorsorge einen besonderen Stellenwert. Ich musste unwillkürlich an meine südländische Großmutter denken. Die war auch ein Genussmensch und die „gesteuerte Wunschkost“ hat sie wohl unwissentlich schon vor 50 Jahren praktiziert. Sie hatte ausreichend Sonnenlicht, kochte naturgemäß „mediterran“, ging bis zu ihrem letzten Tag viele Treppenstufen zum Einkaufen und erreichte trotz dem mittäglichen Gläschen Rotwein zum Essen und ihrer „Festtagszigarette“ ein hohes Alter. OK, Stress war ihr weniger geläufig, dafür hat sie zwei Weltkriege erlebt und musste Mann und Kinder betrauern, hatte also auch ausreichend „belastende Lebensereignisse“. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe, dass immer mehr junge Frauen an Brustkrebs erkranken und dies obwohl sie sportlich aktiv sind, sich ausgewogen ernähren – vielleicht sogar um den Schutz durch das „Vitamin D“ wissen?
Prof. Dr. Schoenberg: Vitamin D spielt neben Calcium eine wichtige Rolle im Knochenstoffwechsel und schützt gegen Osteoporose. Deshalb ist bei niedrigem Vitamin D-Spiegel eine zusätzliche Vitamin D3-Einnahme empfehlungswert, insbesondere während einer antihormonellen Therapie. Vitamin D hat vielleicht auch in der Prävention und Therapie eine Bedeutung – aber es ist unklar wann und wieviel eingenommen werden soll. Auf jeden Fall „lohnt“ es sich, den Vitamin D-Spiegel bestimmen zu lassen und bei niedrigen Werten zu substituieren.
Für viele erbliche Krebserkrankungen sind die genetischen Ursachen inzwischen bekannt. Aber nur etwa fünf Prozent aller Krebserkrankungen sind erblich. Allerdings auch wenn das Tumorleiden genetisch bedingt ist, zeigen wissenschaftlich Studien, dass ein gesunder Lebensstil nach Diagnose wie ausreichend Bewegung, richtige Ernährung und eine stabile Seelenlage auch in diesen Fällen die Prognose und Lebensqualität verbessern.
Vielleicht gibt uns Ihre dritte Säule, das Thema „Psychoonkologie“ hier entsprechende Antworten? Bringen Begriffe wie „Krebspersönlichkeit“, „ungünstige Lifestyle-Faktoren und Bewältigungsmechanismen“ Licht ins Dunkel?
Prof. Dr. Schoenberg: Die Patienten schildern oft, dass sich ihre Gedanken nur noch im Kreis drehen würden, man gar keine Freude mehr habe, nicht mehr so wie früher, oder einfach nicht mehr „die Alte“ sei. Dabei tauchen bei den meisten Patientinnen die Fragen nach dem warum oder warum gerade ich immer drängender auf. Häufig stellt ein Teil der Patientinnen für sich einen Zusammenhang her zwischen erlebten Belastungen, einschneidenden traumatischen Erlebnissen, Verlusten, stressigen Situationen oder einem ungünstigen Lebensstil. Für sie ist die Erkrankung eine Konsequenz, die beinahe logische Folge einer sich lange anbahnenden häufig unheilvollen seelischen Entwicklung. Es gibt aber keine Studien, die eine sogenannte „Krebspersönlichkeit“ definieren könnten oder die seelische Konstellationen fanden, die für sich (Mit-)Auslöser einer Tumorerkrankung waren.
Dessen ungeachtet ist es aber nicht leicht, aus diesem Denkmuster wieder herauszukommen. Immer wieder wird man sich mit der vermeintlich eigenen „Schuld“ quälen, mit sich hadern und in der Vergangenheit verharren. Die selektive Wahrnehmung blockiert den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft, die ja bei aller Dramatik der Diagnose da ist und in vielen Fällen einen positiven Blick in die Zukunft ermöglicht.
Sie sprechen einen sehr wichtigen Aspekt an. Die Erkrankten erleben die Zeit von Diagnose zu Behandlungsbeginn als die Phase der größten Belastung. Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Lebenspartner befinden sich einer Umfrage zufolge nach circa sechs Wochen in der gleichen Stress-Situation, wie die betroffenen Frauen, heißt, auch sie erleben Depression und Angstzustände. Wäre es nicht ganz „normal“ wenn alle an Krebs Erkrankten, deren Partner und möglicherweise auch die nächsten Familienmitglieder psychotherapeutische Hilfe – zumindest kurzzeitig – erfahren würden? Der Anspruch besteht doch – weshalb wird das Angebot nicht umfassend und zielführend genutzt?
Prof. Dr. Schoenberg: Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen. Sie haben recht, dass alle zumindest eine psychoonkologische Beratung bekommen sollten.
Genauso wichtig ist es aber, dass Partner „lernen“ mit der Erkrankung zu leben und sich bemühen auf den erkrankten Partner zuzugehen. „Totschweigen“ aus Angst den Patienten zu beunruhigen oder ihn/sie traurig zu machen, ist die schlechteste Alternative. „Reden Sie mit Ihrer Partnerin und versichern Sie ihr, Ihre ungeteilte Solidarität und Liebe.“ Ein wichtiger Schritt in Richtung Genesung.
Wissen Sie, was mir unglaublich gut gefallen hat in Ihrem Buch? Sie raten einer Patientin, die stark und tapfer sein möchte und traurige Gedanken nicht zulassen möchte, sie solle ruhig auch mal weinen. Tränen seien die Medizin gegen das Traurigsein. Wunderbar! Durch meine vielen Gespräche sehe ich auch immer wieder, dass die Frauen unglaublich streng zu sich selbst sind. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich Manche sogar selbst die Schuld an ihrer Erkrankung geben und meinen, sie hätten die Erkrankung durch einen ungünstigen Lebensstil begünstigt. Diese Denkmuster würden den Blick auf Gegenwart und Zukunft blockieren. Können Sie verstehen, weshalb wir mit dem „Race for Survival“ so erfolgreich sind? Dass es dadurch möglich ist, den Fokus der Survivor von der Krankheit hin zur Genesung zu verändern? Was sagen Sie als Mediziner dazu?
Prof. Dr. Schoenberg: Diese Fragen treffen einen mit enormer Wucht, denn nach der Diagnose erleben viele Betroffene bei sich eine bislang unbekannte Dünnhäutigkeit, die dazu führt, dass die Tränen schneller fließen als man das Taschentuch findet. Die Diagnose führt zu Stimmungsschwankungen, einem Gefühl der Wut oder Traurigkeit, lässt Ängste hochsteigen oder führt zu depressiven Verstimmungen.
Inzwischen gibt es dazu verschiedene Screening-Instrumente, die in zertifizierten Krebszentren zum Einsatz kommen, um ermessen zu können, ob und welche Art der Unterstützung notwendig ist.
Die Frage nach der „Schuld“ habe ich bereits (siehe oben) beantwortet, keine(r) ist Schuld an ihrer (seiner) Erkrankung, keine wird von Gott bestraft! Diese Gedanken, so verständlich sie sind und so häufig ich sie von Patienten gehört habe, so bleiben sie doch unbeantwortbar.
Sie führen auch in die falsche Richtung. Es gilt wieder das Heft des eigenen Handelns in die Hand zu nehmen und die Autonomie über sich selbst zurückzugewinnen. Wenn man aufgibt, hat man schon verloren!
„Lebensqualität ist, was der einzelne Patient darunter versteht“. Da jammert der eine über Nichtigkeiten, während der andere Schmerzen und Unannehmlichkeiten heroisch erträgt und sich an Kleinigkeiten von Herzen erfreut. Sehr anschaulich beschreiben Sie eine Achtsamkeitsübung während der morgendlichen Dusche. Sie haben völlig recht – nicht die Länge eines Lebens sagt etwas über Lebensqualität aus, sondern über die Gabe, das Leben – auch in der Krise – intensiv wahrzunehmen. Eine letzte Frage an den vielbeschäftigten Arzt: Sind Sie immer achtsam im Umgang mit sich selbst?
Prof. Dr. Schoenberg: Ja, aber ich bin sicherlich in einer privilegierten Situation, denn ich habe, ohne egoistisch zu sein, Zeit für mich. Darüber bin ich sehr dankbar.
Ein Witz zum Schluß: Ein katholischer Priester, ein evangelischer Pfarrer und ein Rabbi unterhalten sich über das Thema: Wann beginnt menschliches Leben? Der Priester ist ganz streng und überzeugt: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung des menschlichen Eis mit dem männlichen Samen. Der evangelische Pfarrer ist etwas unsicher: Das menschliche Leben beginnt mit der Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutterschleimhaut. Oder so, man weiß nichts Genaues. Der Rabbi ist völlig verwirrt: Was redet Ihr, das menschliche Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist.
Lieber Herr Professor Dr. Schoenberg, danke für Ihr wunderbares Buch, danke für das angenehme Gespräch.
Prof. Dr. med. Michael H. Schoenberg www.optimierteKrebstherapie.de * Survivor sind nach Definition von Aktion Pink Deutschland e. V. Frauen und Männer, die die Diagnose „Brustkrebs“ erhalten haben, sich in Therapie befinden und alles daran setzen, zu gesunden.